Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten

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Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen

Schläft ein Krieg in allen Dingen - Lesung von Sandra Prechtel

04. Oktober 2022 – 19:00 bis 20:00 Uhr

SCHLÄFT EIN KRIEG IN ALLEN DINGEN

Lesung von Sandra Prechtel

Im Wohnzimmer meiner Großmutter hing eine Fotografie. Zwei Männer in Anzügen, vertieft ins Schachspiel. Der rechte Mann ist mein Großvater Werner Wendlandt, der Mann gegenüber sein Freund aus Kindertagen, Leopold Friedbauer. Meine Mutter erzählt, dass er jeden Abend zu Gast im Hause Wendlandt war, bis zu dem Tag im Oktober 1943, an dem er verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert wurde. Leopold Friedbauer überlebte und zog nach der Befreiung des Lagers in die Wohnung meiner Großeltern. Vielleicht war der Treptower Park 47 der einzige Ort, an dem er sich vorstellen konnte weiterzuleben. In dieser Wohnung wurde mein Großvater am 24. September 1945 von einer Operativgruppe des sowjetischen Geheimdienstes NKWD verhaftet und in das Speziallager 7 in Sachsenhausen gebracht. Er starb dort am 9. März 1947.

Auf der NSDAP-Mitgliedskarte aus dem Bundesarchiv lese ich, dass Werner Wendlandt am 1.12.32 in die NSDAP eingetreten ist. In den Akten, die mir die Gedenkstätte Sachsenhausen sendet, steht als Grund für seine Internierung: Propagandist und Inspektor der Wirtschaftsleitung. Mein Großvater arbeitete als Jurist bei der Berliner Industrie- und Handelskammer. In den wenigen erhaltenen Akten der IHK aus dieser Zeit ist minutiös dokumentiert, wie die Kammer an der Enteignung jüdischer Betriebe mitwirkte.

Meine Mutter hat wenig über ihren Vater gesprochen. Aber sie hat mir einen weißen Pappkarton mitgebracht. Briefe meines Großvaters aus den letzten Kriegswochen. Briefe meiner Großmutter, die um die Frage kreisen: Wer kann helfen, Werner aus dem Lager zu befreien? Ein Brief, in dem mein Großvater entlastet wird. Einer, in dem ein Mithäftling von den Lebensumständen im Speziallager erzählt, und wie mein Großvater gestorben ist. Ein herausgerissenes Kalenderblatt, auf dem meine Großmutter den Tod ihres Mannes notiert hat.

Ich habe den Pappkarton, ich habe die Erzählungen meiner Mutter, ich habe die Dokumente aus den Archiven. Ich finde den Namen meines Großvaters auf einer Karteikarte aus Buchenwald. Ich forsche zu Werner und finde auch Leopold. Seit ich das schwarz-weiß Foto der beiden Schachspieler kenne, lebe ich mit dem Gefühl, dass die Last, das Schweigen, die Trauer meiner Mutter, die sie jetzt erst zeigen kann, mit beiden Männern zu tun hat. Es ist etwas passiert, mit dem wir alle nicht fertig werden. (Hannah Arendt)

 

Die Veranstaltung findet am 4.10. um 19 Uhr im Besucherinformationszentrum (BIZ) statt. Anmeldungen bitte an straetz@stiftung-bg.de

 

Gefördert von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa

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